Akademische Arbeitsgemeinschaft Verlag Wolters Kluwer Deutschland GmbH

Welche steuerfreien Einnahmen den Progressionsvorbehalt auslösen

Was ist der Progressionsvorbehalt?

Lohn-, Entgelt- und Einkommensersatzleistungen wie beispielsweise Arbeitslosengeld I, Krankengeld oder Mutterschaftsgeld sind nach § 3 EStG steuerfrei, gehen also in Ihr zu versteuerndes Einkommen nicht ein. Sie unterliegen aber dem sog. Progressionsvorbehalt. Das hat folgenden Hintergrund: Infolge des progressiven Steuertarifs ist beim Bezug steuerfreier Einnahmen der Steuersatz auf die übrigen steuerpflichtigen Einkünfte niedriger, als wenn die steuerfreien Einnahmen steuerpflichtig wären. Diese Begünstigung der übrigen Einkünfte soll bei bestimmten steuerfreien Sozialleistungen mit dem Progressionsvorbehalt korrigiert werden, um die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit sicherzustellen. Dadurch ergibt sich für Ihr übriges Einkommen immer ein höherer Steuerbetrag als nach dem gesetzlichen Steuertarif. Sie können dann die Jahres-Einkommensteuer nicht wie sonst anhand des Grund- oder Splittingtarifs errechnen.

Lohn- und Entgeltersatzleistungen für Arbeitnehmer

Lohn- bzw. Entgeltersatzleistungen werden gezahlt, wenn der Arbeitgeber aus bestimmten Gründen kein (volles) Gehalt mehr an den Arbeitnehmer überweist. § 32b Abs. 1 EStG enthält eine abschließende Aufzählung der Lohn-/Entgeltersatzleistungen, die dem Progressionsvorbehalt unterliegen. Beispiele sind:

  • Arbeitslosengeld I gemäß SGB III (steuerfrei nach § 3 Nr. 2 EStG),

  • Aufstockungsbeträge und Altersteilzeitzuschläge nach dem Altersteilzeitgesetz oder beamtenrechtlichen Vorschriften (§ 3 Nr. 28 EStG),

  • Elterngeld nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (auch das Mindestelterngeld: BFH-Beschluss vom 21.9.2009, VI B 31/09, BStBl. 2011 II S. 382; Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen),

  • Insolvenzgeld (§ 3 Nr. 2 EStG) zur Deckung von Lohnausfällen bei Insolvenz des Arbeitgebers, auch wenn es von einer Bank gegen Übertragung der Arbeitslohnansprüche vorfinanziert wird (BFH-Urteil vom 1.3.2012, VI R 4/11, BStBl. 2012 II S. 596),

  • Kurzarbeitergeld (§ 3 Nr. 2 EStG), Krankengeld von der gesetzlichen Krankenkasse nach dem SGB V–VII (§ 3 Nr. 2 EStG), Mutterschaftsgeld und Zuschuss zum Mutterschaftsgeld (§ 3 Nr. 1 Bstb. d EStG),

  • dem Lebensunterhalt dienende Leistungen (§ 10 SGB III) und Zuschüsse zum Arbeitsentgelt (Entgeltsicherung) für ältere Arbeitnehmer (§ 421j SGB III) durch die Bundesagentur für Arbeit (§ 3 Nr. 2 EStG),

  • Übergangsgeld für Behinderte nach den §§ 160 ff. SGB III (§ 3 Nr. 2 EStG),

  • Verletztengeld nach den §§ 45 ff. SGB VII (§ 3 Nr. 1 Bstb. a EStG).

Lohnersatzleistungen aus dem EU-/EWR-Ausland sowie aus der Schweiz sind steuerfrei unter Anwendung des Progressionsvorbehalts (Verfügung der OFD Koblenz vom 29.2.2012, DStR 2012 S. 1923).

Nicht unter den Progressionsvorbehalt fallen und damit nicht in der Steuererklärung anzugeben sind zum Beispiel die folgenden steuerfreien Einnahmen, weil sie nicht in § 32b Abs. 1 EStG aufgeführt sind: Arbeitslosengeld II (Hartz IV) gemäß SGB II, Sozialhilfe gemäß SGB XII, Wohngeld, Erziehungsgeld, Streikgeld (steuerfrei nach BFH-Urteil vom 24.10.1990, X R 161/88, BStBl. 1991 II S. 337), das Betreuungsgeld für Eltern von Kleinkindern, die steuerfreien Kapitalerträge beim Teileinkünfteverfahren, der Arbeitslohn aus einem Ein-Euro-Job, das Krankentagegeld aus einer privaten Krankenversicherung sowie Leistungen nach der Berufskrankheitenverordnung (R 32b Abs. 1 Satz 3 EStR 2012), eine Verdienstausfallentschädigung von der gesetzlichen Krankenkasse nach § 38 Abs. 4 Satz 2 SGB V an die den Haushalt übernehmenden nahen Angehörigen des erkrankten Versicherten (BFH-Urteil vom 17.6.2005, VI R 109/00, BStBl. 2006 II S. 17) sowie steuerfreie Zulagen zum Ausgleich des Kaufkraftverlustes, die den in einem anderen EU-Mitgliedstaat arbeitenden deutschen Beamten gewährt werden.

Progressionsvorbehaltsfrei sind auch Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse nach § 38 Abs. 4 Satz 2 SGB V für den Verdienstausfall einer selbst beschafften Haushaltshilfe, bei der es sich um einen Angehörigen handelt, ferner bei häuslicher Krankenpflege nach § 37 Abs. 4 SGB V, wenn es sich bei dem Pflegepersonal/der Haushaltshilfe um einen Verwandten oder Verschwägerten bis zum zweiten Grad, den Ehepartner oder den eingetragenen Lebenspartner handelt (OFD Rheinland 30.3.2006, DB 2006 S. 868), bei Mitnahme einer Begleitperson aus medizinischen Gründen wegen einer stationären Behandlung (§ 11 Abs. 3 SGB V) und für den Verdienstausfall des Lebend-Organ-Spenders sowie das steuerfreie Pflegeunterstützungsgeld, das seit 1.1.2015 bei einer bis zu zehntägigen Auszeit von der Arbeit wegen eines akuten Pflegefalls in der Familie gewährt wird (§ 2 PflegeZG; § 44a SGB XI).

Einkommensersatzleistungen für Nichtarbeitnehmer

Die Empfänger der genannten Sozialleistungen müssen nicht notwendigerweise Arbeitnehmer sein. Auch an Freiberufler und Gewerbetreibende als Ersatz für ausgefallenes Einkommen geflossene Leistungen i.S.v. § 32b Abs. 1 EStG – sog. Einkommensersatzleistungen – unterliegen dem Progressionsvorbehalt.

Beispiele: Eine freiberuflich tätige Mutter erhält Bezüge aufgrund des Mutterschutzgesetzes oder ein selbstständiger Künstler oder Publizist erhält entsprechende Leistungen aufgrund des Künstlersozialversicherungsgesetzes oder ein Selbstständiger erhält als freiwilliges Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse Krankengeld (BFH-Urteil vom 13.11.2014, III R 36/13, BStBl. 2015 II S. 563).

Nicht unter den Progressionsvorbehalt fallen der Existenzgründungszuschuss sowie das Überbrückungsgeld an arbeitslose Arbeitnehmer, die eine selbstständige Tätigkeit aufnehmen.

Auswirkungen auf die Steuererklärung

Bei Lohnersatzleistungen bis zu 410,00 € sind Sie nicht zur Abgabe einer Steuererklärung verpflichtet (§ 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG). Bei zusammen veranlagten Ehepartnern wird diese Grenze nicht verdoppelt. Müssen Ehegatten eine Steuererklärung abgeben, etwa weil einer von ihnen selbstständig tätig ist, werden auch Lohnersatzleistungen des anderen Ehegatten unter 410,00 € (nach Abzug des Arbeitnehmer-Pauschbetrages) in voller Höhe beim Progressionsvorbehalt mit einbezogen. Steuerfreie Leistungen, auf die der Progressionsvorbehalt nicht angewendet wird, müssen Sie in Ihrer Steuererklärung nicht angeben.

Maßgeblich ist der Leistungsbetrag

Das Finanzamt rechnet beim Progressionsvorbehalt mit den im Kalenderjahr zugeflossenen Brutto-Leistungsbetrag. Was darunter zu verstehen ist, hängt von der Art der Lohnersatzleistung ab:

  • Die einen zahlt der Arbeitgeber (z.B. Aufstockungsbeträge bei Altersteilzeit) und trägt sie auf der Lohnsteuerbescheinigung unter der Nr. 15 ein.

  • Die anderen werden vor allem von den Sozialversicherungsträgern (z.B. Arbeitsagentur, Krankenkasse) gezahlt und auf einer Leistungsbescheinigung ausgewiesen (z.B. Arbeitslosengeld, Krankengeld). Hier ist der höhere Leistungsbetrag zu berücksichtigen, auch wenn der auf Ihrem Konto eingegangene Zahlbetrag wegen des Abzuges von Sozialversicherungsbeiträgen, Lohnsteuer usw. niedriger ist (BFH-Urteil vom 5.3.2009, VI R 78/06, BFH/NV 2009 S. 1110). Die abgezogenen Sozialversicherungsbeiträge dürfen Sie nicht als Vorsorgeaufwendungen absetzen, da sie im Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen stehen (§ 10 Abs. 2 Nr. 1 EStG). Sie sind auch nicht von den Lohnersatzleistungen abzuziehen (FG Rheinland-Pfalz vom 24.3.2015, 3 K 1443/13, EFG 2015 S. 1196).

Die gewährten Leistungen sowie die Dauer des Leistungszeitraums werden bis zum 28.2. des nächsten Jahres elektronisch unter Angabe der Identifikationsnummer des Empfängers von der auszahlenden Stelle an das Finanzamt übermittelt (§ 32b Abs. 3 EStG). Die Leistungsbescheinigung muss diesem daher nicht mehr vorgelegt werden.

Vom Arbeitgeber gezahlte Lohnersatzleistungen müssen Sie in der Anlage N in die Zeile 27 eintragen und den von der Arbeitsagentur oder der Krankenkasse gezahlten Leistungsbetrag in die Zeile 91 des Mantelbogens, in die auch Einkommensersatzleistungen an Nichtarbeitnehmer gehören.

Einzelveranlagung von Ehegatten vorteilhaft

Wenn ein Ehegatte steuerfreie Ersatzleistungen bezieht und der andere steuerpflichtige Einkünfte, erhöht sich bei Zusammenveranlagung durch den Progressionsvorbehalt die Einkommensteuer auf das gemeinsame zu versteuernde Einkommen. Eine Einzelveranlagung kann dann eine Steuerersparnis bringen. Da die Ehegatten getrennt betrachtet werden und nicht mehr als ein Steuerpflichtiger, wirkt sich der Progressionsvorbehalt nicht auf das zu versteuernde Einkommen des Ehegatten mit steuerpflichtigen Einkünften aus. Allerdings fällt dann der günstige Splittingtarif weg!

Wenn Leistungen zurückzuzahlen sind

Manchmal kommt es später zu einer Rückzahlung von Lohnersatzleistungen, z.B. bei zu Unrecht gezahltem Arbeitslosengeld. Die zurückgezahlten Beträge werden beim Progressionsvorbehalt mit den erhaltenen Beträgen saldiert. Wenn der Arbeitnehmer jedoch mehr Arbeitslosengeld zurückzahlen muss, als er erhalten hat, senkt die Differenz als negativer Betrag das Steuersatz-Einkommen unter das zu versteuernde Einkommen. Damit kommt es zu einem negativen Progressionsvorbehalt (R 32b Abs. 3 Satz 2 EStR 2012), das heißt, der auf das zu versteuernde Einkommen anzuwendende besondere Steuersatz ist niedriger als nach der Grund- oder Splittingtabelle.

Im Jahr der Rückzahlung einer Lohn- oder Einkommensersatzleistung sollten Sie eine Steuererklärung abgeben. Denn ein negativer Progressionsvorbehalt kann zu einer Steuererstattung führen. Wenn allerdings im Jahr der Rückzahlung gar kein zu versteuerndes Einkommen vorliegt, weil Sie ganzjährig nur Ersatzleistungen bezogen haben, bringt auch der negative Progressionsvorbehalt nichts.

Die Berechnung des höheren Steuersatzes

Die Berechnungsschritte im Einzelnen

Wie die Einkommensteuerberechnung mit Progressionsvorbehalt vor sich geht, zeigt das folgende Schema:

Steuerberechnung mit Progressionsvorbehalt (§ 32b Abs. 2 EStG)

1) Sie berechnen ganz normal Ihr zu versteuerndes Einkommen.

2) Zählen Sie dann die steuerfreien Lohn- bzw. Einkommensersatzleistungen hinzu. Das ergibt das Steuersatz-Einkommen.

3) Ermitteln Sie die Einkommensteuer für das Steuersatz-Einkommen nach dem Grund- oder Splittingtarif.

4) Jetzt können Sie den besonderen Steuersatz als Durchschnittssteuersatz nach folgender Formel berechnen:

Einkommensteuer auf das Steuersatz-Einkommen/Steuersatz-Einkommen × 100

Der besondere Steuersatz gibt somit an, mit welchem Prozentsatz das Steuersatz-Einkommen besteuert würde. Dieser Steuersatz wird nun auf Ihr zu versteuerndes Einkommen angewendet.

5) Multiplizieren Sie das zu versteuernde Einkommen mit dem besonderen Steuersatz. Als Ergebnis erhalten Sie die endgültige Einkommensteuer für Ihr zu versteuerndes Einkommen.

Beim Progressionsvorbehalt wird auch ein Einkommen unter dem Grundfreibetrag besteuert, obwohl dieser an sich steuerfrei ist. Übersteigt nämlich das Steuersatz-Einkommen den Grundfreibetrag, kann ein besonderer Steuersatz berechnet werden, der dann auf das zu versteuernde Einkommen angewendet wird – und zwar auch dann, wenn dieses unter dem Grundfreibetrag liegt. Für den BFH ist das verfassungsgemäß, da sich der Grundfreibetrag ja bereits bei der Ermittlung des besonderen Steuersatzes ausgewirkt hat (BFH-Urteil vom 9.8.2001, III R 50/00, BStBl. 2001 II S. 778). Wenn bereits das Steuersatz-Einkommen unter dem Grundfreibetrag liegt, ergibt sich kein besonderer Steuersatz. In diesem Fall führt der Progressionsvorbehalt zu keiner Steuerbelastung.

Das Ehepaar Weber hat 2015 ein zu versteuerndes Einkommen in Höhe von 26.109,00 € (1. Schritt). Herr Weber ist in Altersteilzeit und hat von seinem Arbeitgeber einen Aufstockungsbetrag in Höhe von 5.400,00 € bekommen. Das Steuersatz-Einkommen (2. Schritt) beträgt also 31.509,00 € (= 26.109,00 € + 5.400,00 €).

3. Schritt:

Steuer laut Splittingtarif für Steuersatz-Einkommen

3.060,00 €


4. Schritt:


Besonderer Steuersatz: 3.016,00 €/31.509,00 € × 100 =


9,5718 %


5. Schritt:


Ermittlung der endgültigen Einkommensteuer
(26.109,00 € × 9,5718 %)


2.499,00 €

Zum Vergleich: Ein zu versteuerndes Einkommen von 26.109,00 € hätte normalerweise eine Einkommensteuer nach Splittingtarif von nur 1.700,00 € ergeben. Durch den Progressionsvorbehalt muss das Ehepaar Weber 799,00 € mehr an Steuern zahlen.

Anders wird gerechnet, wenn Lohnersatzleistungen etwa mit Abfindungen zusammentreffen, die der Fünftelregelung unterliegen.

Wenn Sie und ggf. Ihr Ehegatte während eines Kalenderjahres nur Lohnersatzleistungen bezogen haben und sonst keine steuerpflichtigen Einkünfte vorliegen, wird der Progressionsvorbehalt nicht angewendet. In diesem Fall gibt es wegen ausschließlich steuerfreier Einnahmen kein zu versteuerndes Einkommen. Dann bringen auch Rückzahlungen von Lohnersatzleistungen keinen Steuervorteil.

Kein Abzug von Werbungskosten zulässig

Bei der Ermittlung der Einkommensteuer gehen die Lohn- bzw. Einkommensersatzleistungen ohne Abzug von Werbungskosten in die Berechnung ein. Denn Aufwendungen, die Ihnen im Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen entstanden sind (etwa für Fahrten zur Arbeitsagentur), können nicht berücksichtigt werden (§ 3c Abs. 1 EStG).

Soweit sich aber der Arbeitnehmer-Pauschbetrag noch nicht steuerlich ausgewirkt hat, weil kein Arbeitslohn oder nur ein Arbeitslohn unter dem Pauschbetrag vorliegt, wird er zu Ihrem Vorteil für die Berechnung des Progressionsvorbehalts bei den Lohnersatzleistungen abgezogen (§ 32b Abs. 2 Nr. 1 EStG). Denn Lohnersatzleistungen stellen vereinfachend Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit dar (BT-Drucks. 11/2157 S. 150; Niedersächsisches FG vom 14.2.2012, 12 K 6/11, EFG 2012 S. 1153. Der Pauschbetrag ist aber nicht abzuziehen, wenn bei der Ermittlung der Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit die tatsächlichen den Arbeitnehmer-Pauschbetrag übersteigenden Werbungskosten angesetzt werden (BFH-Urteil vom 25.9.2014, III R 61/12, BStBl. 2015 II S. 182). Die Kürzung um den Arbeitnehmer-Pauschbetrag steht Ihnen auch bei Einkommensersatzleistungen zu, die wegen des Ausfalls anderer Einkünfte als denen aus nichtselbstständiger Arbeit gezahlt wurden (R 32b Abs. 2 Satz 3 EStR 2012). Davon profitieren z.B. freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Selbstständige, die Krankengeld von ihrer Krankenkasse erhalten.