Eine gesetzliche Krankenkasse muss im Einzelfall die Kosten für Cannabis-Extrakt-Tropfen zur Behandlung einer schwersten chronischen Schmerzerkrankung vorläufig übernehmen. Dies hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen zugunsten eines 1961 geborenen Mannes entschieden, der seit seiner Kindheit an einem Morbus Bechterew mit progredientem Verlauf und chronischem Schmerz leidet, der nach Darstellung des behandelnden Arztes im Tagesverlauf bis zu nahezu unerträglichem Schmerz zunimmt.

Im Laufe der Erkrankung des Antragstellers wurden seit 1982 verschiedenste schulmedizinische Versuche mit Analgetika erfolglos unternommen. Der Antragsteller verfügt über eine von der Bundesopiumstelle erteilte Ausnahmeerlaubnis nach dem Betäubungsmittelgesetz zum Erwerb von Cannabis zu Therapiezwecken. Er beantragte bei seiner Krankenkasse die Kostenübernahme für Cannabis-Extrakt-Tropfen. Die Krankenkasse lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass eine solche Therapie nicht zur vertragsärztlichen Versorgung gehöre.

Das LSG hat die Krankenkasse im einstweiligen Rechtsschutzverfahren verpflichtet, die Kosten für die Schmerztherapie mit Cannabis-Extrakt-Tropfen vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung im Fall des Obsiegens der Krankenkasse im Hauptsacheverfahren zu übernehmen. Es könne im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens noch nicht endgültig mit hinreichender Sicherheit beurteilt werden, ob ein Leistungsanspruch auf das streitbefangene Präparat bestehe. Zwar habe der Antragsteller durch Vorlage ärztlicher Atteste glaubhaft gemacht, dass die Therapie in seinem Fall zur Linderung von massiven Schmerzen erforderlich sei. Auf schulmedizinischem Wege könne dies nicht in ausreichendem Maße erfolgen. Das LSG stütze jedoch seine Entscheidung auf eine Folgenabwägung, da die Krankenkasse zu Recht einen Sachleistungsanspruch innerhalb des Regelleistungskatalogs der gesetzlichen Krankenkasse abgelehnt habe. Es handele sich um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode im Sinne des § 135 Sozialgesetzbuch (SGB) V, für die eine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschuss (nach den Richtlinien nach § 92 SGB V) bisher nicht vorliege.

Allerdings komme ein darüber hinausgehender Anspruch aus § 2 Absatz 1a Satz 1 SGB V in Betracht, so das LSG. Zwar liege keine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung im Falle des Antragstellers vor. Es sei aber für möglich, eine schwerste chronische Schmerzerkrankung dann wertungsmäßig gleichzustellen, wenn sie in ihren (funktionalen) Auswirkungen dem Verlust von herausgehobenen Körperfunktionen gleichsteht. Ob diese Voraussetzungen beim Antragsteller vorliegen, müsse im Hauptsacheverfahren geklärt werden. In Anbetracht der zahlreichen, im Eilverfahren nicht aufklärbaren medizinischen Tatsachenfragen und der bestehenden Schmerzen sei es dem Antragsteller nicht zuzumuten, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.09.2015, L 4 KR 276/15 B ER


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