Bei Personen mit einer nicht-binären Geschlechtsidentität besteht kein Anspruch auf Behandlungsmaßnahmen, welche die Uneindeutigkeit der äußeren Geschlechtsmerkmale erhöhen sollen. Bei nicht-binären, sich weder als Mann noch als Frau fühlenden Personen gibt es kein typisches Erscheinungsbild, dem zur Herstellung der Übereinstimmung von Geschlecht und Geschlechtsidentität angeglichen werden könnte. Dies hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in einem Fall entschieden, in dem die Übernahme der Kosten für eine operative Brustentfernung streitig war.

Die 24-jährige, mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen geborene und daher personenstandsrechtlich ursprünglich als weiblich registrierte klagende Person ließ im Oktober 2019 ihren Vornamen und die Geschlechtsangabe im Geburtenregister ändern. Als Geschlecht ist nunmehr "ohne Angabe" eingetragen. Im Dezember 2019 beantragte sie bei ihrer gesetzlichen Krankenkasse, ihr die Kosten der operativen Entfernung ihrer Brüste (Mastektomie) zu übernehmen.

Die Krankenkasse lehnte den Antrag nach Einholung eines Gutachtens beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) ab. Ein Transsexualismus sei nicht belegt und weder eine Alltagserprobung noch eine psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung von mindestens 18 Monaten Dauer durchgeführt worden.

Die klagende Person ließ sich im Mai 2020 auf eigene Kosten von rund 5.000 Euro ihre Brüste operativ entfernen. Auf ihre Klage hat das Sozialgericht (SG) die beklagte Krankenkasse verurteilt, ihr die Kosten für die Entfernung ihrer Brüste zu erstatten. Denn die bisher nach der Rechtsprechung für transgeschlechtliche Personen geltenden Ausnahmen bezüglich Operationen in den gesunden Körper wegen psychischer Erkrankungen müssten unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes auch für nicht-binäre, sich also weder als Mann noch als Frau fühlende Personen gelten. Hiernach habe die Krankenkasse eine Kostenübernahme zu Unrecht abgelehnt.

Das LSG Baden-Württemberg hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die klagende Person habe keinen Anspruch auf Kostenerstattung für die operative Entfernung ihrer Brüste. Es liege schon keine körperliche Auffälligkeit vor, die mit einer Beeinträchtigung von Körperfunktionen verbunden sei. Ob es sich bei der Störung der Geschlechtsidentität überhaupt um eine Krankheit handele, könne offenbleiben, nachdem sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergebe, dass intersexuelle Personen allein wegen der Unmöglichkeit, sie dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zuzuordnen, nicht im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung krank seien.

Die klagende Person habe hier auch keinen Anspruch auf Krankenbehandlung mittels Mastektomie (operative Entfernung der Brustdrüsen), um ihr äußeres Erscheinungsbild und letztlich mittelbar ihre psychische Erkrankung zu beeinflussen. Denn ein Anspruch auf Krankenbehandlung in Form von Eingriffen in intakte, nicht in ihrer Funktion beeinträchtigte Organsysteme komme lediglich im Ausnahmefall in Betracht, insbesondere bei Abweichungen vom Regelfall, die entstellend wirken, oder bei medizinisch gebotener Geschlechtsangleichung in Fällen des Transsexualismus. Beide Voraussetzungen lägen hier nicht vor.

Ausgeschlossen seien in der gesetzlichen Krankenversicherung Ansprüche auf solche Behandlungsmaßnahmen, die darauf abzielten, die Uneindeutigkeit der äußeren Geschlechtsmerkmale zu erhöhen. Dies gelte auch bei Intersexualität beziehungsweise Geschlechtsidentitätsstörungen. Ausweislich der vorgelegten medizinischen Unterlagen sei die klagende Person hier als Frau erkennbar gewesen und weder eine Anomalie noch eine Funktionsstörung der Brüste beschrieben. Die klagende Person habe vielmehr ausschließlich eine subjektiv empfundene Belastung durch die Eigenwahrnehmung ihrer Brüste geltend gemacht und sich einen flachen Oberkörper gewünscht. Negative Reaktionen der Mitmenschen seien nicht beschrieben worden.

Die klagende Person wolle weder als Frau noch als Mann erkennbar sein und ihren Körper an ihre nicht-binäre Identität angleichen. Diesbezüglich scheitere ein Leistungsanspruch aber schon daran, dass bei Intersexualität, welche alle Formen des Geschlechts erfasse, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen seien, aus der Sicht eines verständigen Betrachters kein Erscheinungsbild eines phänotypisch, also die Merkmale der äußeren Erscheinung betreffenden, angestrebten Geschlechts existiere. Die Entfernung der Brüste könnte unter Umständen eher zu einem männlichen Erscheinungsbild führen, was dem nicht-binären Verständnis der klagenden Person jedoch nicht entsprechen würde.

Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 29.06.2022, L 5 KR 1811/21


Das könnte Sie interessieren: