Ein Radfahrer muss grundsätzlich nicht mit einem quer über einen Feldweg gespannten, ungekennzeichneten Stacheldraht rechnen. Deshalb stellt es kein Mitverschulden an einem Unfall dar, wenn er seine Fahrgeschwindigkeit auf ein solches Hindernis nicht einstellt und deshalb zu spät davor bremst. Dies hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden.

Der Geschädigte, ein seinerzeitiger Bundeswehroffizier, und die Bundesrepublik Deutschland als sein Dienstherr machen unter dem Vorwurf einer Verkehrssicherungspflichtverletzung gegen die Beklagten, eine Gemeinde und zwei Jagdpächter, Schadenersatzansprüche wegen eines Unfalls geltend.

Der Kläger bog bei einer Radtour mit seinem Fahrrad in einen zum Gebiet der beklagten Gemeinde gehörenden Feldweg ab. Nach etwa 50 Metern befand sich auf dem Weg eine Absperrung. Diese bestand aus zwei in der Mitte des Weges befindlichen vertikalen nach unten auf den Boden gerichteten Latten, an denen ein Sperrschild für Kraftfahrzeuge (Zeichen 260) befestigt war und die durch zwei waagerecht verlaufende Stacheldrähte in Höhe von etwa 60 und 90 Zentimetern gehalten wurden. Die Drähte waren seitlich des Feldweges an im Unterholz stehenden Pfosten befestigt. An einem der Pfosten konnten die Stacheldrähte gelöst werden, um die Absperrung zu öffnen. Diese war Ende der 1980er-Jahre mit Zustimmung der beklagten Gemeinde durch den damaligen Jagdpächter errichtet worden. Der ehemalige Bürgermeister der beklagten Gemeinde hatte circa zwei- bis dreimal pro Quartal nach der Absperrung gesehen. Die Beklagten zu 2 und 3 waren die am Unfalltag verantwortlichen Jagdpächter des Reviers. Sie nutzten den Feldweg regelmäßig.

Als der Kläger die über den Feldweg gespannten Stacheldrähte bemerkte, gelang es ihm trotz einer Vollbremsung nicht, sein Fahrrad rechtzeitig vor der Absperrung zum Stehen zu bringen. Er stürzte kopfüber in das Hindernis. Dort blieb er mit seiner Kleidung hängen und konnte sich nicht mehr bewegen. Stunden später entdeckte ihn der zufällig vorbeikommende Beklagte zu 2, der Rettungsdienst und Polizei alarmierte. Aufgrund des Sturzes ist der Kläger querschnittsgeälhmt. Er ist seit dem Unfall dauerhaft hochgradig pflegebedürftig und bedarf lebenslang einer querschnittslähmungsspezifischen Weiterbehandlung. Das Wehrdienstverhältnis endete zum 31.03.2014; seitdem ist der Kläger Versorgungsempfänger.

Der Kläger verlangt von den Beklagten als Gesamtschuldnern ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld von mindestens 500.000 Euro sowie die Feststellung der Ersatzpflicht bezüglich aller materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfall, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen sind. Die Bundesrepublik verlangt Ersatz der Ausgleichszahlungen und von an den Geschädigten gezahlten Versorgungsbezügen gemäß Soldatenversorgungsgesetz, stationärer Behandlungskosten, von Kostenerstattungen für Heil- und Hilfsmittel sowie von Behandlungs- und Pflegeleistungen in Höhe von 582.730,40 Euro. Außerdem verlangt sie die Feststellung der Ersatzpflicht bezüglich aller zukünftigen materiellen Schäden, soweit die Ansprüche auf sie übergehen. Die Kläger machen geltend, die Gemeinde als Eigentümerin des Feldweges und die Jagdpächter hätten ihre Verkehrssicherungspflichten verletzt. Für den Geschädigten sei die Absperrung erst aus einer Entfernung von höchstens acht Metern erkennbar gewesen.

Das Landgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Auf die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht (OLG) dieses Urteil teilweise abgeändert und den Klagen unter Berücksichtigung eines Mitverschuldensanteils des geschädigten Klägers von 75 Prozent stattgegeben. Der BGH hat die Urteile des OLG aufgehoben und die Sachen zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurückverwiesen. Mit Recht habe das OLG eine schuldhafte Verkehrssicherungspflichtverletzung durch die Beklagten bejaht. Ein quer über einen für die Nutzung durch Radfahrer zugelassenen Weg gespannter, nicht auffällig gekennzeichneter Stacheldraht sei im wörtlichen wie auch im rechtlichen Sinne verkehrswidrig, so der BGH. Ein solches Hindernis sei angesichts seiner schweren Erkennbarkeit und der daraus sowie aus seiner Beschaffenheit folgenden Gefährlichkeit völlig ungewöhnlich und objektiv geradezu als tückisch anzusehen, sodass ein Radfahrer hiermit nicht rechnen müsse.

Für diesen verkehrspflichtwidrigen Zustand hafte die Gemeinde als Trägerin der Straßenbaulast. Die Haftung der Jagdpächter folge daraus, dass die Absperrung von einem früheren Jagdpächter in dieser Eigenschaft errichtet worden war, um eine Ruhezone für das Wild zu schaffen. Die jetzigen Jagdpächter hätten mit der Übernahme der Jagdpacht das Recht erworben, dieses Drahthindernis, das ihnen bekannt war, weiterhin zu benutzen, und damit aber auch die Verpflichtung, für die Verkehrssicherheit zu sorgen.

Der Kläger habe allerdings entgegen der Ansicht des OLG nicht gegen das Sichtfahrgebot verstoßen, sodass ihm insoweit kein Mitverschulden an dem Unfall anzulasten sei. Dieses Gebot verlange, dass der Fahrer vor einem Hindernis, das sich innerhalb der übersehbaren Strecke auf der Straße befindet, anhalten kann. Es gebiete aber nicht, dass der Fahrer seine Geschwindigkeit auf solche Objekte einrichtet, die sich zwar bereits im Sichtbereich befinden, die jedoch – bei an sich übersichtlicher Lage – aus größerer Entfernung noch nicht zu erkennen sind. Anderenfalls dürfte sich der Fahrer stets nur mit minimalem Tempo bewegen, um noch rechtzeitig anhalten zu können. Um ein solches Hindernis habe es sich im vorliegenden Fall gehandelt. Daran habe auch das an den Drähten angebrachte, mit nach unten auf den Boden gerichteten Holzlatten versehene Verkehrsschild nichts geändert. Im Gegenteil habe es den Eindruck erweckt, der Weg sei für Fahrradfahrer frei passierbar.

Auch die dem Kläger vom OLG angelastete fehlerhafte Reaktion auf das Hindernis, die zum Überschlag des Fahrrads führte, begründe keinen Vorwurf eines Mitverschuldens. Die falsche Reaktion eines Verkehrsteilnehmers stelle dann keinen vorwerfbaren Obliegenheitsverstoß dar, wenn dieser in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht vorhersehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgerechte unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlichem Erschrecken objektiv falsch reagiert.

Als Umstand, der ein anspruchsminderndes Mitverschulden des Klägers begründen könnte, bleibe lediglich, dass er auf dem unbefestigten und unebenen Feldweg statt der "normalen" Fahrradpedale sogenannte Klickpedale nutzte. Dies könnte allerdings einen Mitverschuldensvorwurf von allenfalls 25 Prozent rechtfertigen. Hierzu müsse das OLG noch weitere Feststellungen treffen. Auf die Revisionen des Klägers und seines Dienstherrn sind die Verfahren daher an das OLG zurückverwiesen worden.

Auf die Revision der Beklagten ist zudem das Urteil in dem von dem Dienstherrn geführten Verfahren aufgehoben worden, weil das Berufungsgericht bisher keine hinreichenden Feststellungen zum Bestehen eines so genannten Quotenvorrechts gemäß § 76 Satz 3 des Bundesbeamtengesetzes in Verbindung mit § 30 Absatz 3 Soldatengesetz getroffen hat.

Bundesgerichtshof, Urteile vom 23.04.2020, III ZR 250/17 und III ZR 251/17


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