Nachträgliche bekanntgewordene Tatsachen; Nachträgliche bekanntgewordene Beweismittel; Maßgeblicher Zeitpunkt; Kenntnis der zuständigen Verwaltungsbehörde

Verfahrensgang:

vorgehend:

FG Berlin

Fundstellen:

BFHE 141, 234 - 236

BStBl II 1984, 694

Amtlicher Leitsatz:

Für die Frage, ob Tatsachen oder Beweismittel i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nachträglich bekanntgeworden sind, kommt es auf den Zeitpunkt der Kenntnisnahme durch die zuständige Verwaltungsbehörde an.

Tatbestand:

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Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war im Streitjahr 1978 zunächst Kraftfahrzeugmechaniker und später anderweitig tätig. Nachdem er im Sommer 1978 den Führerschein der Klasse II erworben hatte, ist er als Kraftfahrer beschäftigt. Infolgedessen wurde er in eine höhere Lohngruppe eingestuft.

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Für das Streitjahr 1978 beantragte der Kläger die Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs, den der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) antragsgemäß durchführte. Nach Bestandskraft des Bescheides über den Lohnsteuer-Jahresausgleich beantragte der Kläger, diesen Bescheid zu ändern, da ihm im Streitjahr beruflich veranlaßte Fahrschulkosten in Höhe von 760 DM entstanden seien, die er aus Unkenntnis nicht als Werbungskosten geltend gemacht habe.

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Das FA lehnte die Änderung des angefochtenen Bescheides auch im Einspruchsverfahren ab.

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Die hiergegen erhobene Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) vertrat in seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1982, 387 veröffentlichten Urteil die Auffassung, eine Änderung des Bescheides über den Lohnsteuer-Jahresausgleich nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) komme nicht in Betracht, weil im Rahmen dieser Vorschrift darauf abzustellen sei, ob dem Steuerpflichtigen die steuermindernden Tatsachen nachträglich bekanntgeworden seien. Im Streitfall habe der Kläger schon vor Ergehen des Bescheides Kenntnis von den ihm entstandenen Aufwendungen für den Erwerb der Fahrerlaubnis der Klasse II gehabt, so daß eine Änderung ausgeschlossen sei.

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Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977. Er ist der Auffassung, daß es für das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismitteln nicht auf die Kenntnis des Steuerpflichtigen, sondern nur auf diejenige der Finanzverwaltung ankomme.

Entscheidungsgründe

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Das Urteil des FG verletzt § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977. Nach dieser Vorschrift sind Steuerbescheide - zu denen auch der Bescheid über den Lohnsteuer-Jahresausgleich gehört (§ 42 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes - EStG -) - aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden.

7

Der Umstand, daß dem Kläger Aufwendungen für den Erwerb des Führerscheins der Klasse II entstanden sind, ist eine Tatsache i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977. Diese Tatsache könnte möglicherweise auch zu einer niedrigeren Steuer (einem höheren Erstattungsbetrag) führen, da diese Aufwendungen grundsätzlich als Werbungskosten i. S. des § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG abziehbar wären, wenn das berufliche Fortkommen des Klägers, nämlich die Erlangung einer besser bezahlten Stellung vom Erwerb des Führerscheins der Klasse II abhängig war (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 8. April 1964 VI 251/63 U, BFHE 79, 543, BStBl III 1964, 431, und vom 20. Februar 1969 IV R 119/66, BFHE 95, 433, BStBl II 1969, 433).

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Zu Unrecht hat das FG darauf abgestellt, daß eine Änderung eines Steuerbescheides auf Grund des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 lediglich in Betracht komme, wenn dem Steuerpflichtigen die steuermindernden Tatsachen nachträglich bekanntgeworden sind. Im Rahmen der genannten Vorschrift kommt es - ebenso wie bei § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 23. März 1983 I R 182/82, BFHE 138, 313, BStBl II 1983, 548) - nicht auf die Kenntnis des Steuerpflichtigen, sondern allein auf diejenige des FA an (herrschende Meinung, z. B. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 173 AO 1977 Tz. 16; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung (AO)/Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 173 AO 1977 Anm. 4; Frotscher in Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 173 Anm. 8; Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 173 Anm. 6; im Ergebnis ebenso BFH-Urteile vom 19. August 1983 VI R 177/82, BFHE 139, 343, BStBl II 1984, 48; vom 17. März 1982 II R 39/81, BFHE 135, 244, BStBl II 1982, 491; vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324, und vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2). Die genannten Vorschriften gehen davon aus, daß das FA bei Erlaß eines Steuerbescheides alle ihm bekannten Tatsachen zu berücksichtigen hat (vgl. auch § 88 Abs. 2 AO 1977), und daß einer späteren Änderung auf Grund solcher, dem FA bekanntgewesener Tatsachen die Bestandskraft des Bescheides entgegensteht. Hingegen kann wegen nachträglich bekanntgewordener steuererheblicher Tatsachen oder Beweismittel die Steuerfestsetzung geändert werden. Dabei kommt es ebenso wie bei Durchführung der ursprünglichen Veranlagung auf die Kenntnis des FA als der für die Steuerfestsetzung zuständigen Behörde an.

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Eine andere Auffassung würde § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 weitgehend bedeutungslos machen, weil der Steuerpflichtige selbst im allgemeinen schon vor Erlaß des Steuerbescheides Kenntnis von den steuermindernden Tatsachen oder Beweismitteln hat, er sich aber häufig in einem Rechtsirrtum über ihre steuerliche Auswirkung befindet und sie deshalb nicht rechtzeitig geltend macht. Würde auf die Kenntnis des Steuerpflichtigen abgestellt, so käme eine Änderung bestandskräftiger Steuerbescheide zugunsten des Steuerpflichtigen kaum noch in Betracht. Im übrigen würden bei der vom FG vorgenommenen Auslegung der hier in Frage stehenden Vorschrift vor allem steuerlich unerfahrene Steuerpflichtige benachteiligt, die häufiger als Bürger mit Erfahrungen im Steuerrecht aus Rechtsunkenntnis ihnen selbst vorher schon bekannte steuermindernde Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich geltend machen.

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Danach steht der Umstand, daß dem Kläger die ihm entstandenen Aufwendungen schon vor Ergehen des Steuerbescheides bekannt waren, einer Änderung zu seinen Gunsten nicht entgegen.

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Dis Sache geht an das FG zurück, damit dieses die fehlenden Feststellungen dazu, ob den Kläger ein grobes Verschulden (vgl. hierzu Urteil in BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2) am nachträglichen Bekanntwerden der Aufwendungen für den Erwerb des Führerscheins trifft, nachholen kann.