Fundstelle:

BFH/NV 1994, 724

Tatbestand:

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I. Das Finanzgericht (FG) hat über die Klage der Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) auf die mündliche Verhandlung vom 15. Juli 1992 entschieden. Das --stattgebende-- Urteil wurde am Schluß der Verhandlung am selben Tage verkündet. Die von den Richtern des entscheidenden Senats unterschriebene Urteilsformel wurde der Senatsgeschäftsstelle am 29. Juli 1992 übergeben. Die anschließende Übergabe des um Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung ergänzten Urteils an die Geschäftsstelle erfolgte nach der Darstellung der Kläger am 29. Dezember 1992, nach der Darstellung des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt --FA--) erst am 7. Januar 1993. Dieses Datum trägt auch die Leitverfügung der Geschäftsstelle zu dem Urteil. Das Urteil wurde den Beteiligten am 30. April bzw. 6. Mai 1993 zugestellt.

Mit seiner Revision rügt das FA Verletzung von Verfahrensrecht. Das Urteil sei als nicht gemäß §§ 116 Abs.1 Nr.5, 119 Nr.6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) mit Gründen versehen anzusehen. Zwischen dem Ende der Zweiwochenfrist nach § 104 Abs.2 FGO, innerhalb deren die unterschriebene Urteilsformel der Geschäftsstelle zu übergeben ist, und der Übergabe des vollständig abgefaßten Urteils an die Geschäftsstelle am 7. Januar 1993 lägen mehr als fünf Monate.

Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Gründe

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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO). Das Urteil des FG ist nicht mit Gründen versehen (§ 105 Abs.2 Nr.5 FGO); es war daher als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend aufzuheben (§ 116 Abs.1 Nr.5, 119 Nr.6 FGO).

Wie der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmS-OGB) in seinem Beschluß vom 27. April 1993 GmS-OGB 1 92 (Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1993, 2603) beschlossen hat, ist ein bei seiner Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil i.S. des § 138 Nr.6 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nicht mit Gründen versehen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach der Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind. Die hiernach auf Vorlagebeschluß des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 23. April 1992 GrS 1 91 (Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht --NVwZ-- 1992, 1085) für den Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit getroffene Entscheidung ist auch für die insoweit übereinstimmende Rechtslage nach der FGO von Bedeutung (vgl. §§ 108 Abs.1 Satz 2, 117 Abs.1 Satz 2, Abs.2 Nr.5, Abs.4 VwGO einerseits, §§ 96 Abs.1 Satz 3, 105 Abs.1 Satz 2, Abs.2 Nr.5, Abs.4 FGO andererseits; siehe auch Beschluß des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 17. November 1992 X ER -P- 15 92, BFH NV 1993, 190). - Auf die vorgenannten GmS-OGB-Beschlüsse (in NJW 1993, 2603), und des BFH (in BFH NV 1993, 190), denen sich der erkennende Senat anschließt, wird verwiesen.

Im Streitfall ist das Urteil der Vorinstanz unmittelbar nach der mündlichen Verhandlung am 15. Juli 1993 verkündet worden. Die Beteiligten stimmen darin überein, daß es der Geschäftsstelle des FG jedenfalls nicht vor dem 29. Dezember 1992 mit Tatbestand, Entscheidungsgründen und Rechtsmittelbelehrung versehen vorgelegen hat. Es ist der Geschäftsstelle damit frühestens nach fünf Monaten und 14 Tagen übergeben worden. Angesichts dieser Zeitspanne kann nicht mehr davon ausgegangen werden, daß die niedergelegten Entscheidungsgründe das Ergebnis der mündlichen Verhandlung beurkunden. Darauf, ob das Urteil --wie das FA meint-- der Geschäftsstelle des FG tatsächlich erst am 7. Januar 1993 übergeben worden ist, kommt es nicht an.

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Die Kläger können sich nicht darauf berufen, daß der GmS-OGB-Beschluß in NJW 1993, 2603 erst im April 1993 gefaßt worden und der BFH-Beschluß in BFH/NV 1993, 160 im Dezember 1992 noch nicht veröffentlicht gewesen ist. Zwar ging die Rechtsprechung des BFH zuvor davon aus, daß mit der Revision anfechtbare Urteile, deren Gründe erst nach der Urteilsverkündung schriftlich niedergelegt werden, im Regelfall dann als nicht mit Gründen versehen zu werten sind, wenn zwischen der Verkündung des Urteils und der Absetzung seiner Gründe bzw. der Übergabe des nachträglich vollständig abgefaßten Urteils an die Geschäftsstelle ein Zeitraum von einem Jahr und mehr liegt (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 10. November 1987 VII R 47/87, BFHE 151, 328, BStBl II 1988, 283 [BFH 10.11.1987 - VII R 47/87]). Die Anwendung der geänderten Rechtsprechung auch auf bereits vorliegende Gerichtsentscheidungen ist aber --hiervon unabhängig-- im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung geboten (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 19. November 1985 VIII R 4/83, BFHE 145, 375, BStBl II 1986, 289, 293 [BFH 19.11.1985 - VIII R 4/83] m.N.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14.Aufl., § 176 AO 1977 Tz.5). Abgesehen davon weist das FA zu Recht darauf hin, daß Zweifel an der bisherigen Rechtsauffassung sich bereits aus dem in NVwZ 1992, 1085 veröffentlichten Vorlagebeschluß des BVerwG ergeben mußten; die Vorlage erfolgte wegen Divergenz u.a. von der Rechtsprechung des BFH.

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